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Interview mit Dogan Akhanli am 24.07.2013

Interview mit Dogan Akhanli am 24.07.2013

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K.S.

Herr Akhanli, es sind nur noch ein paar Tage bis zu dem neuen Prozess  am 31.07.2013 in Istanbul, der ja dem Anschein nach eher politische als juristische Hintergründe hat.

Wie geht es Ihnen dabei? Und sehen Sie Parallelen zu den vielen anderen zu erwartenden politischen Prozessen, resultierend aus den Gezi-Park-Protesten?

D.A.

Als ich die Nachricht bekommen habe, habe ich mich sehr schlecht gefühlt. Es hat mich sehr beunruhigt, dass das Kassationsgericht meinen Freispruch kassiert hat. Alles, was ich an traumatischen Erinnerungen aus der Zeit vor drei Jahren und davor mit mir herumtrage, war plötzlich wieder da, und ich habe schlecht geträumt. Es hat mich sehr geärgert, und ich habe dann gedacht, dass ich den Prozess nicht persönlich auffassen sollte, weil er nichts mit der ursprünglichen Tat zu tun hat, sondern aus meiner Sicht ein völlig willkürlicher, politsch motivierter Prozess ist.

Ich hätte nie gedacht, dass das Kassationsgericht so einen Mut hat, solch einen Schritt zu gehen. Das hat mich sehr überrascht, weil es dafür keine juristischen Gründe gab. Das, was aus dem Beschluss des Kassationsgericht hervorgeht, hat nichts mit einem Rechtsstaat zu tun, sondern ist absolut politisch motiviert.

Ich denke, sie wollen erreichen, dass ich nie wieder in die Türkei komme, um dort Teil der Gesellschaft zu sein. Es wurde kein Haftbefehl erlassen, obwohl das Gericht eine lebenslängliche Strafe fordert. Sie werden mir als linkem Aktivisten, Menschenrechtler und Schriftsteller nie verzeihen, weil ich nicht schweige.

Seitdem Erdogan an der Regierung ist, sind politisch Morde zurückgegangen, und statt dessen werden massenhaft Menschen verhaftet. Bis jetzt waren davon besonders Kurden betroffen bis zum Beginn der Gezi-Park-Bewegung. Jetzt wird die junge Generation in Haft genommen, weil diese ihre Lebensart nicht aufgeben will. Das Land ist in einem Prozess zur Demokratisierung, auf der anderen Seite kapieren die Machthaber nicht, was Rechtsstaat heißt.

K.S.

Was denken Sie? Wie wird sich angesichts der vielen Umbrüche die Türkei als Staat weiter entwickeln?

D.A.

Ich glaube, Erdogan hat eine Phantasie, ohne Rechtsstaat das Land zu regieren. Es gibt auf der einen Seite eine starke kurdische Bewegung, die sich mit militärischen Mitteln nicht ausschalten lässt, und deshalb hat man sich an einen Tisch gesetzt, um zu reden. Das war ein großer Schritt. Die Regierung hat anscheinend vergessen, dass die türkische Republik ein laizistischer Staat ist. Es sind die Frauen, die sich ihre Rechte nicht mehr wegnehmen lassen werden, und das haben besonders viele von ihnen währen der Gezi-Park-Proteste gezeigt. Die Frauen haben Angst davor, dass muslimischer Fanatismus ihre Rechte einschränken könnte. Ich bin optimistisch, was die Zukunft angeht wegen der Gezi-Park-Bewegung; denn sie sind aus meiner Sicht unideologisch und doch politisch sehr interessiert.

K.S.

Wie realistisch ist es aus Ihrer Sicht, dass sich so ein fragiles Gebilde wie die Gezi-Park-Bewegung gegenüber der übermächtig erscheinenden AKP durchsetzen kann?

D.A.

Die AKP war nicht weniger demokratisch als die Sozialdemokratische Partei. Die eine war militaristisch eingestellt, und die andere islamistisch. Was die Gezi-Park-Bewegung aus meiner Sich gezeigt hat, ist, dass sie sich weder von Nationalisten noch von Islamisten instrumentalisieren lässt, sondern einen demokratischen Weg zu mehr Rechtsstaat sucht. Was allerdings passieren kann, wenn sich die optimistischen ökonomischen Verhältnisse in der Türkei negativ verändern, mag ich nicht einzuschätzen. Es macht mir allerdings Angst bei der Vorstellung, dass eine wirtschaftliche Rezession zur Radikalisierung der türkischen Gesellschaft führen könnte.

K.S.

Was bedeutet Solidarität für Sie?

D.A.

Solidarität habe ich während meiner Haftzeit erlebt, und deshalb hat der Begriff für mich eine neue Dimension bekommen. Früher habe ich Solidarität sehr politisch wahrgenommen. Zum Beispiel konnte ein politischer Protest in Beziehung zu einem Unrecht wichtig sein, aber ein Brief an einen Menschen, der in Not ist, kann genauso wichtig sein. Ich habe erlebt, wie es war, mit Hilfe der Solidarität vieler freundlicher Menschen hier in Köln wider auf die Beine zu kommen und wieder ein fröhlicher Mensch zu werden.

Der Angriff durch den Prozess auf mich hat mich sehr aufgewühlt, und trotzdem habe ich wegen der großen Solidarität das Gefühl, gelassen und mit Ironie mit der Situation umgehen zu können. Ein praktisches Resultat ist, dass ich angefangen habe, Kurzgeschichten auf deutsch und auf türkisch über meine Erlebnisse in türkischen Gefängnissen zu schreiben, nicht über Brutalität, nicht über Gewalt, sondern über Solidarität und die einfachen menschlichen Beziehungen, die ich erlebt habe.

Ich finde es großartig, dass sich 20 Menschen in einer Delegation zusammengefunden haben, um den Prozess am 31.07.2013 zu beobachten und sich für mich in Istanbul einzusetzen. Ich sehe und schätze besonders die Eigenschaft der Menschen hier in Deutschland, und zwar sich mitfühlend und mitmenschlich solidarisch für andere einsetzen zu können. Das was ich an Solidarität bekomme, möchte ich weitergeben an andere Menschen.

Was mich ärgert, ist, dass man für mich um die Türkei eine Mauer errichtet und so tut, als würde man mich in ein Exil aussperren. Köln ist kein Exil mehr für mich, sondern ein Geschenk, und das hat sich im Laufe der Zeit verändert. Und das verdanke ich den Menschen mit ihrer Solidarität, die es verhindern, dass ich mich einsam fühle.

K.S.

Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Interview genommen haben. Wir und unsere Leser hoffen, bald mehr über Ihre neuen Kurzgeschichten zu hören und zu lesen.  

Das Interview führte Klaus Schampaul für www.aprioripost.de am 24.07.2013

Doğan Akhanlı wurde 1957 in der Türkei geboren. Nach dem Militärputsch von 1980 ging er in den Untergrund. Von 1985-1987 war Doğan Akhanlı als politischer Häftling im Militärgefängnis von Istanbul inhaftiert. 1991 floh er nach Deutschland, wurde als politischer Flüchtling anerkannt und 1998 von der Türkei ausgebürgert. 2001 wurde er deutscher Staatsbürger. Seit Mitte der 90er Jahre lebt er als Schriftsteller in Köln. Im Jahr 2021 ist dieser vielseitige Schriftsteller in Berlin gestorben.

Seitdem hat er sich mit Romanen, Aufsätzen, Interviews und in zahlreichen Projekten in Deutschland immer wieder für den wahrhaftigen Umgang mit historischer Gewalt und für die Unteilbarkeit der Menschenrechte eingesetzt. Akhanlı ist der Initiator der Raphael-Lemkin-Bibliothek in Köln. Schwerpunkt seines zivilgesellschaftlichen Engagements sind das Gedenken an die Genozide des 20. Jahrhunderts, darunter an die Opfer des Völkermordes an den Armeniern, und der interkulturelle, auf Versöhnung orientierte Dialog. Seine Projekte wurden unter anderem von der Bundesstiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” gefördert und im Jahr 2009 vom „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet. Doğan Akhanlı ist zudem als Autor und Rechercheur für den gemeinnützigen Verein „Recherche International“ tätig. Der Verein befasst sich vorrangig mit der bildungsorientierten Aufarbeitung von genozidalen Gewalterfahrungen.

Akhanlıs Romane - „Der letzte Traum der Madonna“, 2005 und „Tage ohne Vater“, 2009 - wurden als wichtigste Roman-Veröffentlichungen in der Türkei ausgezeichnet.

Im Oktober 2010 erschien die zweite Auflage seines Romans „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ im Kitab-Verlag, Österreich.

Sein erstes Theaterstück in deutscher Sprache „Annes Schweigen“ wurde 2012 in Berlin (Theater unterm Dach) und im Januar 2013 in Köln (Theater im Bauturm) uraufgeführt.

 

DOGAN AKHANLI- Veröffentlichungen

Romane (türkisch)

·          Fasıl. Telos Verlag, Istanbul 2010 [Fasıl]

·          Babasız Günler. Turkuvaz Verlag, Istanbul 2009 [Tage ohne Vater]

·          Madonna’nın Son Hayali. Kanat Verlag, Istanbul 2005 [Der letzte Traum der Madonna]

·          Gelincik Tarlası. Belge Verlag, Istanbul 1999 [Das Mohnblumenfeld]

·          Kıyamet Günü Yargıçları. Belge Verlag, Istanbul 1999 [Die Richter des Jüngsten Gerichts]

·          Denizi Beklerken. Belge Verlag, Istanbul 1998 [Warten auf das Meer]

Weitere Veröffentlichungen:

·         Talat Paşa Davası /Tutanaklar (2 ve 3 Haziran 1921). Herausgeber und Übersetzer: Doğan Akhanlı. Belge Verlag, Istanbul 2003 [Der Prozess Talat Pascha am 2. und 3. Juni 1921]

Romane (deutsch):

·         Die Richter des Jüngsten Gerichts. Übertragen von Hülya Engin. Kitab Verlag, Klagenfurt 2007; 2. Auflage: 2010 (Original: Kıyamet Günü Yargıçları, Belge Verlag 1999)

Weitere Publikationen, Aufsätze und Essays (deutsch):

·         Meine Geschichte – „Unsere“ Geschichte. Türkischsprachige Führungen im NS-Dokumentationszentrum Köln (EL-DE-Haus). In: Neue Judenfeindschaft?: Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit globalisiertem Antisemitismus. Jahrbuch 2006 des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2006, S. 310-317.

·         „Reisewege und Alpträume“. In: Armenier in Berlin - Berlin und Armenien. Tessa Hofmann (Hrsg.), mit Beiträgen von Doğan Akhanlı und Yelda, Beauftragter des Senats für Integration und Migration, Berlin 2005, S. 59-61.

·         Köln International: Ein Stadtbuch gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Herausgegeben von Doğan Akhanlı, Christiane Ensslin, Klaus Jünschke, Tanja Motzkau und Carmen Scholz. Edition der Andere Buchladen. Köln 2002.

Theaterstück

  • Annes Schweigen (Annenin Sessizliği). (Uraufführung: Theater unterm Dach Berlin. 2012), Theater im Bauturm Köln. 2013)

Drehbuch (Spielfilm)

Der gelbe Satin (Sarı Saten). Sonfilm. Köln 2009

 

 

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