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Demokratie ist schön, macht aber viel Arbeit

Demokratie ist schön, macht aber viel Arbeit

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…Arbeit macht vielleicht auch dieser Artikel, deshalb zuerst die Kurzfassung:

.     Wahlen zu den Legislativen sollten nicht von Parteien dominiert werden, zum Beispiel indem der Erststimmenkandidat nicht zugleich auf einer Parteiliste abgesichert sein darf. Damit kommen vielleicht mehr sachorientierte Bürger und nicht karrierebewusste Politprofis in die Parlamente. Der Föderalismus sollte gestärkt werden, auch im Bewusstsein der Bürger, zum Beispiel indem die Bundesratvertreter direkt gewählt werden.

·         Abstimmungen zu Sachfragen müssen institutionell verankert werden, nicht nur auf Länder- und Gemeindeebene, sondern auch auf Bundesebene. Dazu muss Art. 76 (1) geändert werden, damit Gesetzesvorlagen auch durch Volksabstimmungen direkt in den Bundestag, bzw. bei konkurrierenden Themen in den Bundesrat eingebracht werden können.

·         Abstimmungen auf Landes- und Gemeindeebene müssen so weiterentwickelt werden, dass überall niederschwellige oder keine Quoren bestehen. Welchen demokratischen Sinn haben Quoren, wenn zugelassene Abstimmungen amtlich ausreichend bekannt gemacht werden?

·         Abstimmungen müssen zu allen Themen möglich sein, die auch der Entscheidung der Volksvertreter offenstehen. Das gilt insbesondere für fiskalische Themen. In diesem Punkt sind die bisherigen Regelungen auf Länder- und Gemeindeebene zu korrigieren. Es gibt keine verfassungsrechtliche oder demokratische Begründung für diese Beschränkung.

·         Wahlen müssen sowohl auf Länder- als auch auf Bundesebene so organisiert werden, dass die „repräsentative“ Parteienherrschaft reduziert, zugleich aber auch die Ungerechtigkeiten eines Mehrheitswahlrechts vermieden werden. Das kann für den Bundestag geschehen, indem die Erststimmenkandidaten nicht zugleich auf einer Zweitstimmen-Parteiliste abgesichert sein dürfen. Direkt gewählte, also einzelne Abgeordnete dürfen gegenüber Fraktionen keine Nachteile im Parlament haben. Einen Fraktionszwang gibt es nicht.

·         Die Fünfprozentklausel für die Zweitstimmen-Vertreter ist willkürlich und demokratisch unbegründet. Wenn die Anzahl der Stimmbürger eines Wahlkreises Maßstab ist für die Präsenz eines Abgeordneten in der Legislative, wäre eher eine 0,5 % Klausel angemessen. Hier besteht Anpassungsbedarf, z.B. auf eine 1 % Klausel. Ja, dann mag manches umständlicher werden, aber nicht unbedingt ineffektiver. Die Schweiz macht es vor.

·         Der Bundesrat muss zu einer direkteren Vertretung der Länder werden. Jedes Bundesland sollte durch eigene Wahlen mehrere Bürger in diese Legislative schicken, die über direkte Personenwahl nach der Reihenfolge ihrer Platzierung bestimmt werden. Ob jedes Bundesland zum Beispiel (echt föderal!) gleichermaßen drei oder vier oder je nach Größe unterschiedlich bis zu sechs  oder sieben Vertreter entsendet, sei an dieser Stelle dahingestellt. Jeder Abgeordnete stimmt nach seinem Gewissen im Landesinteresse ab.

·        Die Bürger sind aufgefordert, entsprechende institutionelle Reformen durchzusetzen und sie dann vor allem auch mit Leben zu füllen.

Wir dürfen unsere Demokratie nicht aufgeben, wir müssen sie – auch im Sinne des Grundgesetzes -direkter machen.


 Wir schaffen das!

Und jetzt die Langfassung:

Unser Grundgesetz, Art. 20, sagt: Alle Staatsgewalt … wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe …ausgeübt. Viele fragen sich schon seit langem, warum es auf Bundesebene bis heute keine Abstimmungen gibt. Andere fragen sich, wie Wahlen in der Welt der Parteienherrschaft noch Ausdruck der Staatsgewalt des Volkes sein können. Unser politisches System wird von manchen als Fassadendemokratie bezeichnet, die einen „tiefen Staat“ verschleiere und für echte Demokratie unbrauchbar sei. Andere sehen das Heil in einer direkten Demokratie als Gegensatz zur repräsentativen: Unklarheiten, einfache Patentlösungen, Pessimismus –all das hat Konjunktur. Im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD ist erstmalig eine Absichtserklärung enthalten, die Frage der Volksabstimmung zu prüfen. Das ist eine Hilfe für entsprechende Bürgerinitiativen. Im Folgenden wird an den institutionellen Sinn unserer Verfassungsorgane erinnert und es werden Vorschläge zu ihrer Verbesserung gemacht –wohl wissend, dass Institutionen immer nur so gut sein können wie die darin handelnden Menschen.

Zuerst soll der Begriff „repräsentativ“ kritisch beleuchtet werden, mit dem unsere Demokratie oft gekennzeichnet und in Gegensatz zu einer direkten („wahren“) Demokratie gesetzt wird. Karl Albrecht Schachtschneider weist darauf hin (1), dass der Begriff 1928 von Carl Schmitt (!) eingeführt wurde, letztlich um ein demokratisches System theoretisch zu entmündigen indem die Souveränität von der Bürgerschaft auf deren Repräsentanten verlagert wird. Mit dieser Lehre sei durch den Schmitt-Schüler Leibholz, der leider 20 Jahre lang die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestimmt habe, die Herrschaft durch praktisch aufgewertete „repräsentative“ Parteien über eine praktisch nicht mehr souveräne Bürgerschaft etabliert worden. Das Grundgesetz habe diese Verfassungspraxis jedoch nicht nahegelegt und kennt den Begriff der Repräsentation noch nicht einmal, schon gar nicht in diesem entmündigenden Sinn. Das politische System Deutschlands wäre richtig mit dem der (parlamentarischen) „Vertretung“ beschrieben. In diesem Begriff gehe die grundgesetzlich gewollte Souveränität der Bürgerschaft nicht verloren.  Die parlamentarischen Vertreter der Bürger sind „Abgeordnete“, nicht „Repräsentanten“ – ein feiner Unterschied!

Mit dieser Klarstellung wird ein anderer Blick auf die politisch gewollte Verfasstheit Deutschlands möglich als ihn zum Beispiel Kritiker wie Rainer Mausfeld (2) pflegen: Dort wird das politische System der Demokratie, wie es seit über 200 Jahren entwickelt und erkämpft wurde, als von Grund auf irreführend beschrieben, nur geschaffen, um eine breite Zustimmung zu einem ungerechten System der wirtschaftlichen Macht- und Besitzverhältnisse zu gewinnen. Für diese Sichtweise steht wohl Adornos ebenso theorielastiges wie kulturpessimistisches Wort Pate, es gäbe kein richtiges Leben im falschen. Tatsächlich besteht aber keine Notwendigkeit, die (vermeintlichen) Absichten von Verfassungsvätern mit den Möglichkeiten einer Verfassung, also mit der historischen Entwicklung zu verwechseln und die errungenen menschenrechtlichen Erfolge, um die uns die Bewohner vieler anderer Länder beneiden, gering zu schätzen.

Direkt oder Vertretung – ein Gegensatz?

Direkte Demokratie kann kein Gegensatz zu einer Vertretungsdemokratie sein, sondern sie muss eine Ergänzung sein. Auch in der direktdemokratisch weit entwickelten Schweiz, bei diesem Thema ein wichtiger Bezugspunkt, gibt es parlamentarische Volksvertreter, die Gesetze erarbeiten, Gesetze, die zu mind. 90 % nicht „vors Volk“ kommen. Sicher kann jedes kantonale Gesetz hier vors Volk gebracht werden, wenn 50.000 Unterschriften dies verlangen. Das Volk kann auch selbst Gesetze initiieren, wenn 100.000 Unterschriften dafür vorliegen. Auf der Bundesebene werden Gesetze mit Verfassungsrang regelmäßig „vors Volk“ gebracht.  Aber all diese historisch erkämpften Errungenschaften sind ist kein Ersatz für eine professionelle Legislative. Allerdings: Zwar hat der Begriff der „Repräsentation“  im Sinne einer Souveränitätsabgabe der Bürgerschaft an eine Legislative nichts zu suchen,  wohl aber eine Berechtigung für exekutive und judikative Aufgaben: Jedes Gerichtsurteil wird „im Namen des Volkes“ gesprochen. Jeder Minister und jeder Polizist handelt hoheitlich als Repräsentant des Volkswillens. Und das ist auch gut so.

Denn in jeder Genossenschaft – eine Demokratie ist eine politische Genossenschaft (die Schweiz nennt sich „Eidgenossenschaft“!) – muss es gewählte handlungsfähige Ausschüsse geben, die eine Zeit lang allein gelassen werden und selbständig handeln. Bei einer so komplexen Genossenschaft wie dem Staat ist das Tagesgeschäft ungleich umfangreicher als bei einer Genossenschaft von Weinbauern. Die Frage ist nur: wie kontrolliert der Souverän diese Ausschüsse?

Volksabstimmungen, wenn man sie als Ersatz und nicht als Ergänzung verstehen wollte, haben gegenüber dem parlamentarischen Vertretungssystem übrigens einen wichtigen Nachteil: Sie funktionieren über Mehrheitsentscheid; sie kennen nur „ja“ oder „nein“ und folgen dem Prinzip: the winner takes it all. Das ist für jede einzelne Sachfrage zu gegebenem Zeitpunkt natürlich notwendig. Aber es wäre ein großer Verlust für das Gemeinwesen, wenn alles nur auf diesem Weg entschieden werden könnte, wenn also das Wechselspiel zwischen verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten und Kompromissversuchen, die auf der parlamentarischen Ebene mit ihren proportional vertretenen politischen Strömungen möglich sind, nicht möglich wäre. Auch das gehört zur demokratischen Meinungsbildung und zur Widerspiegelung eines nie einheitlichen „Volkswillens“, nicht zuletzt auch zum Minderheitenschutz!

Gerechtigkeit bei Wahlen

Die Wahl von Volksvertretern für bestimmte Aufgaben ist also notwendig. In Deutschland hat man, anders als in vielen anderen Demokratien, ein doppeltes Wahlsystem für die Legislative eingerichtet, bei dem mit einer ersten Stimme ein Bürger pro Wahlkreis direkt gewählt wird und mit einer zweiten Stimme eine Partei. Damit wird zum einen die Persönlichkeit eines Abgeordneten in den Vordergrund gestellt, zum anderen wird über den Proporz der Zweitstimmen verhindert, dass in jedem Wahlkreis ein großer Teil der Stimmen (bei mehreren Kandidaten oft die Mehrheit der Stimmen!) praktisch unbeachtet bleibt – wie dies beim Mehrheitswahlrecht der Fall ist. Das ist also eine gute Idee. Allerdings sind die Direktkandidaten fast immer zugleich Parteienvertreter und über die Zweitstimmen-Parteiliste so abgesichert, dass sie auch als Zweit- oder Drittplatzierte ihr Mandat erhalten können, womit die Idee fast wieder ad absurdum geführt wird.

Es gibt Ausnahmen. Bei der letzten Bundestagswahl 2017 hat es 28 parteiunabhängige Direktkandidaten gegeben, von denen einer 9 % der Stimmen in seinem Wahlkreis erreicht hat; die anderen blieben eher im Promillebereich (3). Beim Parteienproporz hat man außerdem – ohne grundgesetzliche Verpflichtung – eine 5%-Klausel eingeführt, sodass nur einigermaßen stabile (und immer auch fremdfinanzierte!) Parteien den Sprung ins Parlament schaffen. Auch diese willkürliche Regelung muss in Frage gestellt werden. Nimmt man die Anzahl der Bürger eines Wahlkreises zum Maßstab für die Vertretungsberechtigung im Parlament, so wäre eher eine 0,5 % Klausel angemessen.

Dennoch sind mit den zwei Stimmen die Wahlen unserer Vertreter deutlich „gerechter“ als dies bei einem ausschließlichen Mehrheitswahlrecht der Fall wäre.  Doch egal, welche Direktkandidaten gewählt werden – mittels Überhang-, bzw.  Ausgleichsmandaten bildet das Parlament stets den Zweitstimmenproporz der Parteien ab. Der Wille des Grundgesetzes  („Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Art. 21) - besagt aber gerade nicht, dass die Proporzverhältnisse der Parteien untereinander praktisch der einzige Willensausdruck des Volkes sein sollen. Oder gar, dass die Abgeordneten dann entgegen Art. 38 GG („Die Abgeordneten…sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“) einem Fraktionszwang unterliegen. Dieser ist grundgesetzwidrig.

Vorschlag: Wie wäre es mit einem Zweistimmensystem, also weiterhin zwei Abgeordnete pro Wahlkreis, bei dem die erste Stimme einem Direktkandidaten zusteht, der natürlich einer Partei angehören, aber nicht gleichzeitig auf einer Parteiliste stehen darf? Hier würde echtes Mehrheitswahlrecht gelten. Die zweite Stimme wird für eine Partei abgegeben, die ihre Vertreter (keine Erststimmenbewerber!) nach internen demokratischen Regeln nominiert. Die grundgesetzlich gewollte „Mitwirkung der Parteien“ ist über die Zweitstimme ausreichend gegeben. Eine breitere Vertretung der unterschiedlichen Volkswillen (Plural) als bei einem ausschließlichen Mehrheitswahlrecht (nur Erststimme) ist dadurch ebenfalls gegeben. Die Persönlichkeitswahl erfährt eine echte Aufwertung. Die aktuelle Kritik an den vielen Überhangmandaten wäre gegenstandslos. Ergänzend dürfte eine Fraktionsbildung keine Vorteile gegenüber fraktionslosen Abgeordneten bieten. Für Erststimmen-Kandidaten müsste eine offizielle Internetplattform zur Verfügung gestellt werden, auf der sie sich nach Vorlage eines festzulegenden Unterstützerquorums präsentieren könnten, damit sie als Einzelpersonen überhaupt wahrgenommen werden können. Gleichzeitig könnte man im Sinne der Chancengleichheit auch die derzeit üblichen Wahlkämpfe verbieten - es war schließlich auch möglich, dass Tabak- und Alkoholwerbung mancherorts verboten wurden...

Vielleicht würden viele Parteipolitiker sich gar nicht auf das Erststimmenexperiment einlassen und die Chance, dass parteilose oder parteipolitisch nicht karrierebewusste, sondern sachorientierte Bürger in den Bundestag, bzw. auch in die Landtage kämen, wäre größer. Die mit dem Zweistimmensystem eigentlich gewollte Persönlichkeitswahl wäre vom Parteienzugriff befreit, aber auch die Ungerechtigkeiten eines reinen Mehrheitswahlrechts wären über den Parteienproporz der Zweitstimme weitgehend gemildert.

Abstimmungen in Bund und  Ländern und Gemeinden

 

Die vom Grundgesetz gewollten Abstimmungen auf Bundesebene gibt es bis heute nicht. Es gab im Jahr 2002 im Deutschen Bundestag einen Vorstoß, den 348 von 549 Abgeordneten unterstützt haben, also 63,3 %. Nötig gewesen wären 66,7 %. Damit sollte eine Grundgesetzänderung eingeführt werden, die es erlaubt, dass das Volk über ein dreistufiges Abstimmungsverfahren Gesetzesinitiativen in die Legislative einbringt. Die Änderung des Art. 76 GG ist notwendig, weil dieser die Volksabstimmung als Quelle der Gesetzgebung bisher nicht vorsieht.

Auch 2006, 2010, 2013 gab es Versuche auf Parlamentsebene und bei Koalitionsverhandlungen, die aber zumindest an der CDU/CSU, zum Teil auch an anderen Parteien scheiterten (4). Der Verein „Mehr Demokratie e.V.“ wirbt seit vielen Jahren und auch aktuell nach der letzten Bundestagswahl für die Erfüllung dieses Grundgesetzauftrages (5).

Die positiven Erfahrungen der Schweiz zu Steuerabstimmungen durch den Souverän direkt referiert Werner Wüthrich ausführlich (6) und fasst zusammen: „Der Einwand, dass so etwas nur im kleinen Rahmen wie in den Gemeinden oder in kleinen Kantonen funktioniert, hat sich als Irrtum erwiesen. Die Volksabstimmungen haben immer wieder zu erstaunlichen Ergebnissen geführt, die sich bewähren – vielleicht gerade weil die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger keine Finanz- und Wirtschaftsexperten sind.“ Das funktioniert in der Schweiz vor allem durch das Wechselspiel zwischen parlamentarischer Arbeit und direkten Initiativen aus dem Volk. Am Beispiel der Landwirtschaft lässt sich dieses erfolgreiche Wechselspiel über Jahrzehnte hinweg verfolgen (7). Mithilfe von parlamentarischen Vermittlungen und Vorschlägen, die eben auch andere, weiter greifende Kriterien berücksichtigen, lassen sich spezifische Einzelinitiativen mit anderen unterschiedlichen Willen von Teilen des Volkes besser vermitteln. Dass inzwischen auch in der Schweiz dieser Prozess leider ins Stolpern geraten kann, wird von Marianne Wüthrich (8) dargestellt.

Zu welchen Themen könnte es Volksentscheide auf Bundesebene überhaupt geben? Artikel 73 GG gibt dazu Auskunft. Außen- und Außenhandelspolitik, bundesweite Infrastrukturaufgaben, Verteidigungs- und Währungspolitik, einige andere Themen. Ja, das sind wichtige Themen, aber viele wichtige politische Themen sind Ländersache oder Gegenstand der „konkurrierenden“ Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern (Art. 74 GG). Auch das ist gut so, denn je dezentraler, föderaler der Staat organisiert ist, desto demokratischer ist er. Die Bundesebene behandelt nur einen Teil der gesamten politischen Agenda.

In einigen Bundesländern wurden Abstimmungsregelungen bereits zwischen 1946 und 1950 in die Landesverfassungen aufgenommen, in den anderen Ländern zwischen 1974 und 1996. Auch auf kommunaler Ebene gibt es solche Regelungen. Die Bestimmungen sind sehr unterschiedlich gestaltet, nicht selten mit solchen Quoren, dass es die Interessenten von vornherein abschreckt, eine ergebnislose Mühsal auf sich zu nehmen. Das führte zum Beispiel dazu, dass in Bayern bis 2013 insgesamt über 1.500 Bürgerentscheide durchgeführt wurden, im Saarland nach seinem Eintritt in die Bundesrepublik dagegen kein einziger. Bundesweit wurden über 7.000 Bürgerbegehren gezählt (5).

Abstimmungen hatten bereits 1952 zur Neugründung des Landes Baden-Württemberg und 1955 -57 zur Aufnahme des Saarlandes in die Bundesrepublik geführt. 1996 wurde die Zusammenlegung von Berlin und Brandenburg per Referendum von der Bevölkerung abgelehnt. Beliebige andere Beispiele sind der Nichtraucherschutz in Bayern oder die Schulreform in Hamburg (beide 2010), die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe oder das Projekt Stuttgart 21 (beide 2011), die Ablehnung eines riesigen Outlet-Centers in Duisburg auf dem ehemaligen Güterbahnhofs- (und Loveparade-) Gelände oder die Zustimmung zum Weiterbetrieb des Flughafens Tegel in Berlin (beide 2017).

Trotz der fehlenden Abstimmungsregelung auf Bundesebene (außer im Fall der Neugliederung der Bundesländer) ist direkte Demokratie also keineswegs ein Fremdkörper im politischen Leben unseres Landes. Abstimmungen müssten aber möglich sein zu allen Fragen, über die auch die Vertreter in den gewählten Legislativen entscheiden können, also auch unmittelbar zu Fragen der Steuererhebung und -verwendung!

Föderalismus

Ein Staat ist umso demokratischer, je dezentraler seine Entscheidungsstrukturen organisiert sind. Souveränität (= Freiheit) muss „unten“ bleiben und wird nur für jeweils übergeordnete Aufgaben an übergeordnete Institutionen delegiert. Das weiß und will auch das Grundgesetz. Deshalb findet die Gesetzgebung grundsätzlich auf der Länderebene statt. Unsere Bundesländer sind eigene Staaten mit den jeweils eigenen drei Gewalten. Für die übergreifenden Themen hat das Grundgesetz bestimmt, welche politischen Gegenstände auf Bundesebene zu entscheiden sind, welche einer  „konkurrierenden“ Gesetzgebung (Bund oder Land) unterliegen und welche jedenfalls die Zustimmung des Bundesrates als Ländervertretung benötigen.

Allerdings hat das Grundgesetz den Bundesrat seltsam konstruiert, weshalb er im Bewusstsein der Bevölkerung auch nur schwach als demokratisches Gremium präsent ist. Er wird eher als überflüssiges zweites Machtzentrum des Parteienpokers wahrgenommen. Denn die Legislative Bundesrat wird von den Bürgern nicht gewählt. Es handelt sich um eine Versammlung der Länderregierungen, also der Exekutiven, die je nach Bundesland 3 – 6 Stimmen haben.

Vorschlag: Wir lassen den Bundesrat – nach entsprechender Grundgesetzänderung Art. 51 - direkt wählen. Dafür sehen wir nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den USA gute Vorbilder. Dort schickt jeder Staat, die 700.000 Bürger von Vermont ebenso wie die 39 Millionen von Kalifornien, jeweils zwei Senatoren in den Kongress nach Washington. Diese Ungleichgewichtung der Bürgerstimmen mag man als undemokratisch empfinden; sie sind aber ehrlicher Ausdruck des Föderalismus. Die Alternative wäre nur eine Umgestaltung der Bundesländer auf gleichstarke Einheiten – wofür es gute historische und kulturelle Gründe und entsprechende demokratische Entscheidungen geben müsste!

Man könnte es bei mehreren Vertretern pro Bundesland belassen, diese aber mit einer Stimme pro Bürger als direkte Persönlichkeitswahl gestalten. Es kämen dann nicht nur Erstplatzierte, sondern auch Zweit- und Drittplatzierte etc. in die Ländervertretung, sodass die Ungerechtigkeiten eines einfachen Mehrheitswahlrechts weitgehend vermieden wären. Ein Bundesrat als institutioneller Ausdruck des Föderalismus hätte so einen viel direkteren Bezug zu den Bürgern, zum Souverän.

Exekutive und Judikative

Diese beiden Gewalten werden hier nicht ausführlicher betrachtet, was nicht heißt, dass es nicht auch hier Verbesserungsmöglichkeiten gäbe. Positiv gegenüber anderen Nationen wie etwa Frankreich oder USA ist, dass der Regierungschef in Deutschland von der direkt gewählten Legislative gewählt wird und dieser verantwortlich ist. Die hier dargestellte Reform von Wahlen und Abstimmungen würde dazu führen, dass die Exekutive sehr viel kooperativer mit dem politischen Meinungsbild in der Legislative umgehen müsste, was nur als Vorteil gewertet werden kann.

Die Rechtsprechung ist zwar in ihrer täglichen Arbeit unabhängig, nicht aber in ihrer institutionellen Bestimmung. Die Richter werden in Deutschland von den Justizministern mit ernannt und befördert (oder auch nicht) und unterstehen deren Dienstaufsicht. Da sind bessere Modelle der Gewaltenteilung möglich, wie zum Beispiel in Spanien, aber auch in den meisten  anderen europäischen Nationen. Dort unterstehen die Richter einem vom Parlament gewählten Gremium.

Diese Themen würden neue Diskussionen eröffnen. Deshalb soll es hiermit erst einmal genug sein.

 Fußnoten

(1)  Karl Albrecht Schachtschneider: Die nationale Option, Rottenburg 2017, S. 72 f

(2)  Rainer Mausfeld: Phänomene eines „Tiefen Staates“ als Erscheinungsbild des autoritären Kapitalismus, in: Ulrich Mies, Jens Wernicke (Hg.): Fassadendemokratie und tiefer Staat, Wie 2017

(3)   http://buergerkandidaten.de/  und    http://buergerkandidaten.de/bewerbungen/472

(4)   https://de.wikipedia.org/wiki/Volksentscheid

(5)   https://www.mehr-demokratie.de/  und  https://www.volksentscheid.de/

(6)   https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2017/nr-2728-7-november-2017/steuern-und-finanzen-in-der-schweiz...

           (7)   https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2017/2223-12-september-2017/landwirtschaft-und-direkte-demokratie-teil-4.html

(8)   https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2017/nr-2728-7-november-2017/direkte-demokratie-gruendet-auf-redlichkeit.....

 

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